Todesmarsch-Strecke Dachau – Waakirchen

Licht ins Dunkel von Beuerberg

Im Wald zwischen Achmühle und Bolzwang lagerten alle Marschkolonnen aus den KZ-Lagern Allach (2000), Dachau (7000), Türkheim (1200), Landsberg/Kaufering (3000) und einem Bahntransport nach Wolfratshausen (2000), die nicht im benachbarten Geretsried hängen blieben und dort befreit wurden – also bis zu 15.000 Häftlinge. Es wäre für unsere Untersuchung von großem Wert gewesen, wenn aus dem Dorf Eurasburg – wenige Kilometer südlich von Achmühle gelegen – ein Pfarrerbericht vorläge. Aber vom Pfarrer des dortigen Schlossbenefiziums, das zur Pfarrei Münsing gehört, liegt leider kein Bericht vor – die einzige Fehlanzeige aus den Pfarreien entlang der Stecke des Todesmarsches von Dachau. Eurasburg ist deshalb so wichtig, weil dort die einzige nicht gesprengte Brücke über die Loisach führte und weil unmittelbar südlich von Eurasburg die Marschkolonnen von Tausenden von Häftlingen geteilt wurden.

Die Lücke von Eurasburg wird, vor allem was die Teilung des Gesamtzuges anbetrifft, durch den Pfarrer von Beuerberg weitgehend geschlossen. Pfarrer Johann Baptist Held berichtet in seinem Bericht fast ausschließlich über die KZ-Häftlinge vor und nach ihrer Befreiung. Wir verdanken seinen präzisen und teilweise überraschenden Informationen die Schließung einer großen Wissenslücke in der bekannten Literatur. Wegen der Bedeutung dieser Informationen listen wir sie inhaltlich geordnet auf: Pfarrer Held berichtet zunächst unter dem Datum des 29. April, an dem der Dachauer Marsch in Achmühle/Bolzwang lagerte, über einen der Zugtransporte aus Dachau (bzw. Emmering) und Mühldorf (siehe Link Todesmärsche/Bahntransporte/Dachau-Züge):

  • "An diesem Tag wurde ein Eisenbahnzug mit Dachauer Häftlingen am hiesigen Bahnhof von amerikanischen Tieffliegern beschossen, wobei eine Anzahl Häftlinge, man spricht von über 100 ... getötet wurden. Die meisten Leichen wurden im Zug mitgenommen und erst, wie man hörte, in Staltach und Seeshaupt von den Amerikanern ausgeladen. Hier wurden ... etwa 17 Leichen von KZlern neben dem Bahngeleise begraben." (Es handelte sich um den zweiten Dachauer Zug, der in Beuerberg mit einem Teilzug aus Mühldorf gekoppelt wurde und in Seeshaupt hängen blieb.) Dann folgt sein präziser Bericht über den Häftlingsmarsch nach Beuerberg:
  • "Im Zusammenhang mit dem Einmarsch der Amerikaner ist ein anderes Ereignis zu erwähnen: Am 30.April 1945 kam gegen 4 Uhr nachmittags ein Zug von ca. 5000 Dachauer Häftlingen von Herrenhausen (!) her nach Beuerberg. Diese hatten bei Eurasburg gelagert und sollten über Herrenhausen-Höfstätt nach Königsdorf ... .Die ersten Hundertschaften, hauptsächlich Deutsche, nahmen den richtigen Weg von Herrenhausen nach Königsdorf, die folgenden gingen irrtümlich (!?) (von Herrenhausen aus!) zuerst nach Beuerberg und wollten von da nach Königsdorf gehen."
  • " Als aber die Wachmannschaften das nahe Schießen der Amerikaner in Beuerberg hörten, liefen sie davon und Beuerberg hatte an 5000 KZler da. Es waren fast durchweg Russen. Sie waren anfangs ganz harmlos, bettelten und wurden reichlich verpflegt. Anders wurde die Sache, als am Abend die Amerikaner, ihre Verbündeten kamen. ... Die ganze Sache wäre wohl ganz harmlos verlaufen, die Amerikaner wären wohl in der Hauptsache durch Beuerberg gefahren, wenn nicht alle Loisachbrücken gesprengt worden und die KZler ihnen nicht auf weitem Wege entgegengegangen wären. ... Durch die Ankunft der Amerikaner bekamen die KZler Schwung und treiben ihr Unwesen einen ganzen Monat lang ... am 31. Mai plötzlich eine Reihe Lastautos erscheinen und ... alle KZler mitnahmen."

Überraschend und auch etwas zweifelhaft ist die wichtige zweite Aussage des Beuerberger Pfarrers: "irrtümlich zuerst nach Beuerberg und wollten von da nach Königsdorf." Eurasburg und Beuerberg liegen am selben, am linken Ufer der Loisach; wer von Eurasburg nach Beuerberg will nimmt die linke Uferstraße. Niemand würde erst die Loisach überqueren, den Umweg nach Herrenhausen machen und dann wieder in Gegenrichtung die Loisach überqueren, um nach Beuerberg zu kommen. Die SS-Führer hatten sicher Landkarten. Dass zumindest ein Teil der russischen Häftlinge den direkten Weg von Eurasburg nach Beuerberg gehen musste, bestätigte der schon zitierte Zeitzeuge Franz Scherz:

  • "Am Nachmittag (des 30. April) um etwa 14.30 Uhr hieß es antreten. Diesmal waren wir die ersten. Die Russen standen auf der anderen Seite und fragten:΄Wohin`? An einer Straßenkreuzung wurden wir getrennt. Österreicher und Deutsche gingen über eine Brücke, die eine Seite des Tales hinauf, die Russen und eine kleine Gruppe von Juden, die andere Seite, direkt in Richtung Front."

Für beide zitierten Versionen spricht die Zeugenaussage des ehemaligen Häftlings Karl Rüdrich:

  • "Am nächsten Morgen (30. April) wurde dann der Marsch in Richtung Bad Tölz fortgesetzt. Die Deutschen bildeten die ersten Marschblöcke von jedes Mal ungefähr 1000 Mann, dan kamen die Juden und zuletzt die Russen. ... Alle Brücken und Wege wurden bereits in die Luft gesprengt. Wir erfuhren, daß ein Teil der Russen bereits in die Hände der Amerikaner gefallen war ...."

Für beide Möglichkeiten spricht auch die eidesstattliche Erklärung des SS-Führers des Dachauer Häftlingszuges, Sturmbannführer Fritz Degelow, im Rahmen des Dachauer Prozesses gegen das SS-Personal des KZ Dachau:

  • "In dem Lager bei Wolfratshausen (Achmühle/Bolzwang) habe ich auf eigene Verantwortung den Weitermarsch einstellen lassen, weil das Wetter sich stark verschlechtert hatte. .... In Königsdorf erhielt ich von einem SS-Brigadeführer den Befehl, die Russen und Polen sofort den amerikanischen Truppen zu übergeben, aber mit den deutschen und jüdischen Häftlingen in Richtung Bayerisch-Zell weiterzumarschieren."

Diese Darstellung lässt folgende Möglichkeiten offen: Der vordere Teil von 5000 russischen Häftlinge überquerte noch bei Eurasburg die Loisach und wurde dann bei Herrenhausen – nach dem SS-Befehl aus Königsdorf – nach Beuerberg zurückgeschickt, während der hintere Teil der Russen – nach der Sprengung der Loisachbrücke – am linken Ufer von Eurasburg direkt nach Beuerberg marschierte. Diese Version ist mit allen bekannten Aussagen von Häftlingen und SS-Führern vereinbar - auch mit dem Bericht des Pfarrers von Beuerberg.