Todesmarsch-Strecke München-Ost – Tegernseer Tal

a. Strecke Riem und Giesing

Wir untersuchen beide Häftlingsgruppen gleichzeitig, weil sie von Gründwald bis Egling auf derselben Strecke marschierten. Von den Pfarreien der Ausgangsorte gibt es keine Hinweise auf die abziehenden Häftlingsgruppen, weder von der für Riem zuständigen Truderinger Pfarrei St. Peter und Paul und der Riemer Filialkirche St. Martin, noch von der Pfarrei Heilig Kreuz in Giesing. Möglicherweise begann der Abmarsch der 1543 russischen Zwangsarbeiter aus Riem im Laufe der Nacht. Die 539 Giesinger Agfa-Häftlinge, die direkt nach Süden marschierten, waren im südlichen Bereich der Pfarrei Heilig Kreuz, also nicht im Blickfeld des Pfarrers, untergebracht.

Keinerlei Hinweise auf diese beiden Häftlingsmärsche von immerhin 2000 Gefangenen gibt es auch in dem sehr knappen Pfarreibericht aus Grünwald, wobei es für die russischen Häftlinge nicht nur mehrere Zeugenaussagen gibt, wie z.B. durch Otto-Ernst Holthaus, sondern auch dokumentarische Fotos, zu denen überlebende Kauferinger Häftlinge sagen: "Das waren nicht wir. Das waren Russen." Auch der spärliche Bericht der folgenden Pfarrei enthält keinen Hinweis auf diese kleineren Häftlingszüge.

Doch der Seelsorger des zur Pfarrei Deining gehörenden Kuratbenefiziums Egling überliefert in seiner Information über "die letzten Apriltage":

  • "Beim Durchmarsch einer unendlich scheinenden Kolonne von Dachauer KZlern wurde ein kranker Häftling am Ortseingang von Egling kurzerhand erschossen und dort eingescharrt; seine Leiche soll im Winter in den Friedhof gebracht werden."

Von Egling oder dem Nachbarort Ergerthausen aus marschierten die über 500 Häftlingsfrauen des Giesinger Agfa-Werkes wahrscheinlich nach Wolfratshausen, wo sie befreit wurden.

Die weiter südlich gelegene Pfarrei Ascholding lässt den Zug der russischen Häftlinge ebenfalls unerwähnt. Doch in den folgenden Pfarreien durch das Isartal von Unterleiten (Gemeinde Hechenberg) bis kurz vor Bad Tölz war die Aufmerksamkeit der Pfarrer auf diesen zweiten Marsch von Häftlingen aus dem Münchner Osten und die menschliche Anteilnahme an ihrem Schicksal bemerkenswert groß.

Hinsichtlich der in der Literatur genannten Orte Manhartshofen, Bairawies, Hechenberg, Kirchbichl und Ellbach ist darauf hinzuweisen, dass zum Gebiet der ersten drei oder vier Dörfer auch die von Ascholding entlang der Isar verlaufende Straße nach Bad Tölz gehört, dass diese Ortsangaben also nicht eine zweite Marschstrecke bedeuten. Erst ab Kirchbichl und Ellbach ist – abseits von der Isarstraße - eine zweite Marschstrecke in Richtung Tölz oder Tegernsee in Erwägung zu ziehen.

Die wichtigsten Pfarrerberichte dieser Todesmarsch-Strecke stammen von der Pfarrei Hechenberg mit ihren beiden Filialkirchen Kirchbichl und Ellbach. Pfarrer Wilhelm Sigl, der übrigens auch den heftigen Schneefall der betreffenden Tage dokumentiert, schreibt in seinem ausführlichen Bericht über den Isartaler Todesmarsch:

  • "Am Dienstag, 1. Mai, und am Tag vorher wurden Hunderte von Häftlingen aus Dachau und anderen Konzentrationslagern auf der Isarstraße von ihren Aufsehern gegen Süden ´getrieben`, viele krank und schwach. In Unterleiten sah man, wie sie vom Straßenrand Grasbüschel ausrissen und, ohne sie näher anzuschauen, aus Hunger verzehrten! Manche kamen auf der Flucht an die Häuser heran, in ihren gestreiften ´Zebra`-Kleidern, halb erfroren, und baten um Speise und Obdach und um Versteck vor der SS! In Unterleiten wurden 2 erschossene Häftlinge aufgefunden und wurden später im Friedhof Hechenberg kirchlich beerdigt. ... Bei Ellbach wurden 12 erschossene Häftlinge auf Befehl der Amerikaner nachträglich kirchlich beerdigt."

Aus diesem Pfarrerbericht ist zu schließen, dass der Riemer Marsch bis Hechenberg/Unterleiten entlang der Isarstraße führte, dann – zumindest teilweise – durch die Waldberge bei Ellbach in Richtung Bad Tölz oder Tegernsee.

Pfarrer Joseph Staber aus dem Hechenberger Kuratbenefizium Ellbach-Kirchbichl berichtet am ausführlichsten über diese Strecke. Seine Beobachtungen setzen am 1. Mai ein:

  • "Als es Tag wurde, sah man kleinere Truppen von Dachauer Häftlingen sich in der Umgebung des Dorfes bewegen. Wie ich am anderen Tag erfuhr, wurden am frühen Vormittag mehrere aus ihnen von SS-Männern erschossen."
  • " ungefähr um 16 Uhr des 1. Mai ... ein SS-Mann im Gefreiten-Rang sagte zu seinem Kameraden: ´Es treiben sich hier so viele Gefangene herum. Es sind doch lauter Verbrecher, man müsste einen Haufen zusammenfangen und mit ihnen PengPeng machen`".
  • "Von diesen Morden erfuhr ich nach der amerikanischen Besetzung am Nachmittag des 2. Mai. Ich ging sofort zum Bürgermeister und forderte ihn auf: 1. ... das Amtsgericht Tölz wegen der Entsendung der Mordkommission zu verständigen. 2. In Anbetracht der Tatsache, daß 10 Häftlinge auf Befehl der SS bereits verscharrt worden waren, zwei aber noch unbeerdigt am Bahndamm bei Tölz, jedoch im Bereich unserer Gemeinde lagen, einen würdigen Friedhof anzulegen."
  • "Ich setzte für den nächsten Montag, den 7. Mai, ein feierliches Requiem für die ermordeten Gefangenen an, das der Pfarrer Franz Geiger, aus der Diözese Rottenburg, selbst ein Dachauer Gefangener, zelebrierte. Ich lud auch polnische Häftlinge aus Dachau zum Gottesdienst ein ... "
  • "... wurde ich von einer amerikanischen Stelle ersucht, die kirchliche Beerdigung am Dienstag, den 15. Mai, um 15 Uhr im Friedhof von Ellbach zu halten. ... Ich hielt eine Ansprache, in deren 1. Teil ich die Leiden der Gefangenen bis zu ihrem traurigen Ende schilderte – sie waren aufgefunden worden mit Schüssen durch den Hals, zertrümmerter Schädeldecke ... ."
  • "Hierauf hielt Pfarrer Richard Schmidt aus der Diözese Breslau eine ergreifende Rede in polnischer Sprache ... bat mich ein ehemaliger Häftling aus Dachau, der noch die Gefangenentracht trug, einen Nachruf halten zu dürfen ... sprach er im Namen der deutschen politischen Gefangenen ... legte der Bürgermeister der Gemeinde Ellbach-Kirchbichl einen Kranz nieder ... waren viele amerikanische Soldaten anwesend, die teilnahmsvoll und in würdiger Haltung der Liturgie folgten."

Mit diesem eindrucksvollen Bericht des Seelsorgers von Ellbach-Kirchbichl enden die Zeugnisse von Pfarrern entlang der Todesmarsch-Strecke vom Münchner Osten in Richtung Alpen. Aus dem unmittelbar an Ellbach grenzenden Bad Tölz haben wir im Kapitel "Todesmarsch-Strecke Dachau-Waakirchen" schon zwei Zitate aus dem dortigen Pfarrerbericht über den 1. Mai 1945 erwähnt von denen sich das erste – vom Nachmittag - auf die russischen Häftlinge aus Riem, das zweite – vom Abend – auf die Häftlinge aus Dachau-Kaufering beziehen könnte:

  • "Nachmittags gaben Schüsse das Zeichen zum Plündern ... rasch kamen viele Auslandsarbeiter und Häftlinge von Dachau ... "
  • "Am 1. Mai wurden Tausende von Häftlingen von Dachau durch Tölz geführt ... Sie konnten kaum mehr gehen vor Hunger und Müdigkeit, baten flehentlich um Brot und Wasser. Kaum sahen dies die Aufseher, hieben sie mit Knitteln unbarmherzig auf sie ein oder gaben ihnen Stöße mit dem Gewehrkolben."

Wir weisen an dieser Stelle auf einen Bericht aus Dietramszell hin, den wir unter dem folgenden Abschnitt "Strecke Ottobrunn-Alpen" diesem Marsch zuordnen.

Wir machen an dieser Stelle auch noch einmal darauf aufmerksam, dass wir die unter Abschnitt 3 (Strecke Dachau-Waakirchen) erwähnten Pfarrerberichte über das Kriegsende im Tegernseer Tal (Gmund, Tegernsee, Bad Wiessee, Rottach-Egern, Kreuth, Dürnbach) aus inhaltlichen, geographischen und zeitlichen Gründen nicht dem "Todesmarsch von Dachau", sondern eher den Todesmärschen von München-Ost (konkret Riem und Ottobrunn) zuordnen.