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Evakuierung oder Vernichtung? | |||||||||||||||
War der Marsch von 6887 Dachauer KZ-Häftlingen in Richtung Alpen, den der "Schutzhaftlagerführer" am 26. April 1945 befahl und am 27. April protokollierte, als Weg in den Tod gedacht? Zielte dieser Zug auf "Tod durch Marschieren" oder auf Vernichtung an einem fernen Ort? Wenn dies und nur dies die Absicht war, warum wurden 6887 arbeitsfähige Häftlinge - laut Marschbefehl Russen, Juden und "Reichsdeutsche" - zu Fuß und 1759 Juden per Bahntransport in Richtung Süden geschickt, während rund 30000 Häftlinge im KZ Dachau zurückblieben und drei Tage später von amerikanischen Truppen befreit wurden? Warum die Totalräumung der Dachauer Außenlager in Landsberg/Kaufering und Mühldorf, nicht aber des Hauptlagers? Welche anderen Ziele könnte die SS mit den Märschen in den Süden verfolgt haben, wenn nicht "Tod durch Marschieren" oder Vernichtung an einem fernen Ort? War der Zug der Dachauer KZ-Häftlinge ein "Todesmarsch" oder eine "Evakuierung", wie es im Jargon der Nazi-Machthaber hieß. Marschierend in die Endlösung Das Prinzip einer Kombination von "Evakuierungsmärschen", Zwangsarbeit und Völkermord wurde schon bei der endgültigen Konzipierung der Ausrottung aller elf Millionen europäischer Juden protokolliert. Auf der Berliner Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 verkündete SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und Beauftragter des Nazi-Regimes für die "Endlösung der Judenfrage" vor Spitzenbeamten der Reichsbehörden und hohen SS-Führern aus dem Reich und den besetzten Ostgebieten Ziele und Methoden für die operative Umsetzung der Endlösungsbefehle Hitlers, Himmlers und Görings: "... im Zuge der Endlösung (sollen nun) die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen ... werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos der Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesen zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist." Dieser von Heydrichs "Judenreferent" Adolf Eichmann protokollierte Klartext nennt also drei Zielrichtungen bei der Behandlung der "großen Arbeitskolonnen" versklavter Juden: "Arbeitseinsatz" im Interesse des Regimes, "Ausfall" durch "natürliche Verminderung", Sonderbehandlung des "Restbestands". Auch wenn es den wirtschaftlichen Interessen des Regimes nicht nützte, war der massenweise Tod jüdischer Häftlinge bei der Verschubung von einem Zwangsarbeitslager zum anderen ein "allfälliges" Ziel und die letztendliche Ermordung der Überlebenden dieser "natürlichen Auslese" das finale Ziel der "Endlösung". Inhaftierung, Transport, Zwangsarbeit, Weitertransport, erneut Zwangsarbeit und schließlich Vernichtung: Das waren Bestandteile und Zwischenetappen des Völkermords an den Juden. Dass der Begriff "Todesmarsch" für die "Evakuierungszüge" der KZ-Häftlinge von Dachau und seinen Außenlagern Kaufering und Mühldorf zutreffend ist, offenbart die Praxis, die das Naziregime seit Sommer 1944 bei der Räumung von KZ-Lagern verfolgte. Todesmärsche von Auschwitz bis in die "Alpenfestung" Schon vor Januar 1945, vor der Befreiung der drei KZ-Lager von Auschwitz durch die sowjetische Armee, hatte die SS mit der "Evakuierung" von Häftlingen begonnen. Bereits mit der Eroberung großer Teile der baltischen Staaten durch die Rote Armee, in denen das Naziregime zahlreiche Zwangsarbeitslager errichtet hatte, begann die massenweise "Evakuierung" arbeitsfähiger Juden in Richtung Reich, die durch Strapazen und Mord den Tod von Hunderttausenden von Häftlingen zur Folge hatte. Diese Politik kurz vor dem Eindringen der Sowjetarmee offenbart zwei Ziele: KZ-Häftlinge sollten nicht in die Hände der Eroberer fallen. Mindestens ebenso wichtig für die Naziführung war ihr Wunsch, weiterhin über das letzte Reservoir von Arbeitssklaven verfügen zu können. Anfang Juli 1944, als in Auschwitz noch die Vergasung der ungarischen Juden voll im Gange war, kam es zu den ersten Todesmärschen und Todeszügen, als die SS kurz vor der Ankunft der Sowjets in Litauen die dortigen Arbeitslager räumte. Wir kennen dieses Kapitel sehr gut, weil litauische Zeitzeugen wie Uri Chanoch, Mordechai Heinovits, Abba Naor und Zwi Katz, die heute an unseren Gedenkzügen zur Erinnerung an den "Todesmarsch von Dachau" teilnehmen, uns über ihre schrecklichen Erlebnisse in jugendlichen Jahren berichteten. Am 1. Juli 1944 ermordete die SS in den litauischen Städten Kaunas und Schaulen beim Näherrücken der Sowjets 8000 nicht mehr arbeitsfähige Juden, am 19. Juli schickte sie Tausende arbeitsfähiger Häftlinge in einem mehrtägigen Bahntransport, den Hunderte nicht überlebten, zum KZ Dachau, wo sie zur Zwangsarbeit in den Lagerkomplexen Landsberg/Kaufering und Mühldorf weitertransportiert wurden. Den dortigen "Arbeitseinsatz" haben etwa zwei Drittel "durch natürliche Verminderung" nicht überlebt. Der Rest wurde, als die US-Armee näher rückte, in Richtung "Alpenfestung" weitergetrieben. Marschieren und Ermordung waren ein vieltausendfaches Schicksal. Ende Juli 1944 begann für eine andere Gruppe jüdischer KZ-Häftlinge, die später in den Außenlagern von Dachau landeten, die Horrorgeschichte der mörderischen "Evakuierungszüge". Es handelte sich um ein großes jüdisches Arbeitkommando, das die SS nach der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands von Auschwitz zu Räumungsarbeiten in die polnische Hauptstadt verlegt hatte. Am 29. Juli 1944, als die Sowjetarmee schon fast das Weichselufer bei Warschau erreicht hatte, wurden 3520 überlebende Zwangsarbeiter zuerst zu Fuß in Richtung Westen getrieben. Auf dem 120 Kilometer langen Marsch kamen über 500 Teilnehmer zu Tode. Am 4. August wurden die 3000 Überlebenden von der Stadt Zychlin in einen Zug nach Dachau verladen. 1000 Häftlinge starben auf der fünftägigen Bahnfahrt. Nur noch 2000 Überlebende erreichten am 9. August das dortige KZ, wo sie in die Außenlager von Landsberg/Kaufering und Mühldorf weitertransportiert wurden und schließlich, soweit sie die dortige Zwangsarbeit überlebten, zu Fuß oder per Bahn in Richtung Alpen weiterevakuiert wurden. Dr. Max Mannheimer, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, ist Überlebender und Zeuge dieser mörderischen Folge von Todeszügen und Todesmärschen von Auschwitz über Warschau, Dachau und Mühldorf bis zum Starnberger See. Im August und September 1944 bekamen Zwangsarbeiter aus baltischen Lagern beide Formen der damaligen Judenpolitik zu spüren. Am 28. August wurden noch Tausende von arbeitsfähigen Juden von Lagern in Estland auf dem Seeweg in das KZ Stutthof bei Danzig verlegt, vom 19. bis 23 September, als Land- und Seeweg schon gesperrt waren, 3500 Häftlinge der estischen Lager Klooga und Lagedi vor dem Eintreffen der russischen Truppen ermordet. Von Oktober bis Dezember 1944, als die Rote Armee an der Nordfront die Reichsgrenze, im Zentrum und an der Südfront Warschau und Budapest erreicht hatte, begann mit der Evakuierung der großen KZ-Lager von Auschwitz, Stutthof und ihren zahlreichen Außenlagern die Schreckenszeit der großen Evakuierungstrecks in Richtung Westen, die durch Zehntausende von Opfern die Begriffe "Todesmarsch" oder "Todeszug" rechtfertigen. Bahntransporte verfrachteten rund 100.000 Häftlinge aus Auschwitz und den vielen umliegenden Arbeitslagern in die großen KZ-Lager im Reichsgebiet: Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen, wobei eine unbekannte, aber sehr große Zahl von Häftlingen an den Strapazen und Entbehrungen der oft tagelangen Bahnfahrten starb. Opferreicher waren die Fußmärsche, die schon im Herbst 1944 von der Region Auschwitz ausgingen. Ab Januar 1945 eskalierte die Opferrate der "Todesmärsche" und "Todeszüge". Aus dem KZ Stutthof und dem rückwärtigen Ostpreußen wurden am 20. Januar 29000 jüdische Häftlinge mit Zügen und Schiffen in Richtung Ravensbrück und Sachsenhausen abtransportiert. Eine Woche später kamen dort nur noch 3000 Überlebende an - Todesrate 89 Prozent. Kleinere Evakuierungsgruppen, die im beginnenden Chaos der letzten Kriegsphase ungeplant in Richtung Westen getrieben wurden, weisen Sterbezahlen auf, die den Begriff "Todesmarsch" nachhaltig begründeten. Hier einige Beispiele:
Am irrsinnigsten - nicht nur geografisch - waren die letzten beiden Evakuierungszüge aus Nord- und Mitteldeutschland in Richtung Alpen:
Die Überlebenden dieses letzten Todeszuges nach Dachau kamen dort zu spät an, um noch auf einen Todesmarsch Richtung Alpen getrieben zu werden. Nach Recherchen der israelischen Holokaust-Gedenkstätte Jad Vaschem wurden in den letzten Kriegsmonaten insgesamt etwa 250 000 vorwiegend jüdische Häftlinge aus KZ- und Arbeitslagern in Marsch gesetzt oder per Bahn abtransportiert, um bis zum letzten Kriegstag und bis zum letzten Blutstropfen ihre Arbeitskraft auszubeuten. Erst Mord durch Bomben und Gift, dann Marsch ins Ungewisse? Für das Schicksal der KZ-Häftlinge von Dachau, Kaufering/Landsberg und Mühldorf erteilte die Naziführung in den letzten Aprilwochen des Jahres 1945 sich widersprechende Befehle. Mitte April befahl SS-Führer Kaltenbrunner, Chef des Berliner SS-Zentrums "Reichssicherheitshauptamt", dem Münchner Gauleiter Giesler, "im Auftrage des Führers unverzüglich eine Planung über die Liquidierung des Konzentrationslagers Dachau und der beiden jüdischen Arbeitslager Landsberg und Mühldorf auszuarbeiten". Unter dem Decknamen "Wolke A1" sollten die Außenlager des KZ-Komplexes von Dachau durch die Reichsluftwaffe bombardiert werden. Von diesem Befehl berichtete der oberbayerische Gaustabsamtsleiter Bertus Gerdes, den Gauleiter Giesler mit der Umsetzung des Kaltenbrunner-Befehls beauftragt hatte, im November 1945 im Rahmen des Nürnberger Prozesses. Gerdes verweigerte jedoch den Befehl mit der Begründung, Mangel an Benzin und Bomben sowie schlechtes Flugwetter würden die Luftwaffe an diesem Einsatz hindern. Einige Tage später, als US-Truppen schon Südbayern erreicht hatten, befahl Kaltenbrunner Gauleiter Giesler die Aktion "Wolkenbrand". Die "Landsberg-Juden" sollten ins KZ Dachau evakuiert und dort - zusammen mit allen Häftlingen des Hauptlagers - mit Gift getötet werden. Die jüdischen Häftlinge des KZ-Komplexes Mühldorf sollten von Gestapo-Angehörigen ermordet werden. Als die ersten "Landsberg-Juden" am 25. oder 26. April im KZ-Dachau eingetroffen waren, befahl Kaltenbrunner, die Aktion "Wolkenbrand" sofort durchzuführen. Auch diesen Befehl sabotierte Gaustabsamtsleiter Gerdes. Erst in den letzten drei Tagen vor der Befreiung des KZ-Dachaus ordnete Kaltenbrunner in einem dritten Befehl an, alle Dachauer Häftlinge (mit Ausnahme von "Westeuropäern") zur Ermordung ins Tiroler Ötztal marschieren zu lassen. Im Nürnberger Prozess erklärte Kaltenbrunner, Hitler hätte ihn angewiesen, die arbeitsfähigen Häftlinge "zum Festungsbau in die Alpen" zu schicken. Der Zeitpunkt dieses Befehls, der den Dachauer Märschen eine veränderte Zielsetzung gab, ist nicht bekannt. Arbeitssklaven für die "Alpenfestung"? Auch Reichsführer SS Heinrich Himmler habe Mitte April befohlen, "Deutsche, Russen, Polen und Juden" aus den bayerischen Lagern Flossenbürg, Dachau, Landsberg und Mühldorf "in ein Gebirgstal in Tirol" zu transportieren. Diesen Himmler-Befehl bestätigte SS-Sturmbannführer Fritz Degelow im November 1945 im Rahmen des Dachau-Prozesses. Es ist historisch belegt, dass Hitler und Himmler in der letzten Kriegsphase die Verlegung von Rüstungs- und Versorgungsbetrieben (z.B. Luftwaffe, Raffinerien) nach Tirol, Salzburg und Steiermark geplant hatten. Die Häftlinge des Außenlagers Ottobrunn (östlich von München), die in der dortigen Luftfahrtforschungsanstalt arbeiteten, mussten am 26. April 1945 in Richtung "Alpenfestung" marschieren. Sie erreichten nur das Voralpengebiet bei Bad Tölz. Möglicherweise waren sie der Häftlingszug, der am 1. Mai noch Wildbad Kreuth - die Grenze zu Tirol - erreichte und dort von US-Truppen befreit wurde. "Evakuierung" in den Tod Was auch immer die allerletzten Absichten Hitlers, Himmlers und Kaltenbrunners Ende April 1945 für die jüdischen Häftlinge von Dachau, Kaufering und Mühldorf waren, egal ob erneute Sklavenarbeit im Ötztal oder Massenmord in abgelegenen Seitentälern Tirols, die grausame Wirklichkeit der Fußmärsche und Bahntransporte in Richtung Alpen lässt den Begriff "Evakuierung" als ungeeignet erscheinen. Der Begriff "Evakuierung" kommt von dem lateinischen Wort vacuum, das "leer" bedeutet. Der Begriff "Evakuierung" meint also "Leerung" oder "Räumung", d.h. durch die Märsche und Bahntransporte sollten die KZ-Lager "geleert", d.h. "geräumt" werden. Der Begriff "Evakuierung" erhielt jedoch in den letzten Kriegsjahren einen Sinn, der für die Häftlingsmärsche nicht zutreffend ist. Mit Beginn der Bombardierung deutscher Städte und dem Vorrücken der alliierten Truppen auf das Reichsgebiet bedeutete "Evakuierung" Rettung und Schutz der deutschen Zivilbevölkerung - z.B. die Verlegung der Schuljugend aus den bombardierten Städten in ländliche Gebiete ("Kinderlandverschickungslager"). Deutsche Behörden evakuierten also deutsche Schulkinder, um sie in Sicherheit zu bringen, um ihr Leben zu retten. Wurden KZ-Häftlinge von Kaufering und Mühldorf oder der Dachauer Transport vom 26. April 1945 in Marsch gesetzt, um ihr Leben zu retten? Angesichts der hohen Todes- und Mordrate auf diesen Transporten zu Fuß oder per Bahn und der Grausamkeit der SS-Wachen bis zum allerletzten Kriegstag ist der Begriff "Todesmarsch" für dieses düstere Kapitel der deutschen Geschichte zutreffend. |